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Das Meer ist geizig geworden
Filipos, Adonis, Charalabis und die anderen: Im Fischerdorf Lentas auf Kreta

Von Hans W. Korfmann

Filipos steht neben seinem kleinen Lieferwagen. Einen Arm hat er auf dem Blech angewinkelt, um sein gedankenschweres Haupt stützen zu können. Mit ernster Miene blickt er über das Dach hinweg aufs Meer hinaus. Er ist kein krummer Bauer oder verwilderter Hirte, er pflegt einen aufrechten Gang und seinen silbergrauen Schnurrbart. Er lächelt selten, spricht nicht viel und hebt nur zögernd die Hand zum Gruß, wenn er mit seinem einst weißen, von Staub und Alter längst ergrauten Toyota um eine der Kurven in den Bergen fährt und ihm ein Bekannter entgegenkommt. Filipos schaut auf die Uhr. Es ist bald Mittag. Doch er wartet geduldig darauf, daß die drei Boote um die Felsen herumkommen, um, wenige Meter vom Strand entfernt, ihre Anker zu werfen.
Auch Filipos war früher Fischer. Jetzt ist Filipos Fischverkäufer.

Nicht weit entfernt, in einer der Tavernen, von denen viele noch immer keinen Namen haben, sondern eben die Tavernen von Nikita oder Jorgos oder Stelios sind, lösen zwei Frauen das strahlend weiße Fleisch von den Gräten, vier Gabeln pro Skelett. Die Fische vom Vortag sind klein, aber köstlich. Das Meer ist tiefblau, zwei Fischerboote dümpeln in der stillen Bucht, eine weiße Möwe schwebt durch das Postkartenmotiv. Und in den paar Bäumen und Sträuchern, die sich doch entschlossen haben, hier zwischen den Felsen zu wurzeln, hocken Scharen von Singvögeln und zwitschern. Halb Afrika scheint auf der Durchreise in Lentas Zwischenstation machen zu wollen. Denn Lentas liegt am Ende der europäischen Welt, und irgendwo dort drüben ist Afrika.

Es ist still in Lentas. Die Tavernen sind leer, selten kommen Touristen, die einen Zeitungsartikel in der Hand haben und nach der Pension von Niki oder Leftheris fragen. Es gibt einen Journalisten, der jedes Jahr einmal über das kleine Dorf auf Kreta berichtet - von Lentas und Nikos Katsantzakis, der hier seinen "Sorbas" geschrieben haben soll, von Lentas und dem alten Petrakis, der das Benzindepot der Nazis in die Luft sprengte, oder von Marina und Christina, den zwei Ladenbesitzerinnen von Lentas. Aber noch immer fahren die meisten Touristen nach Matala und Agia Galini, nur ein paar Felsen weiter Dort sind die Einheimischen reich geworden, obwohl sie auch nichts anderes zu bieten haben als Sonne, Felsen und dieses blaue Meer. Lentas aber will einfach nicht ber ühmt werden.

Eine Autostunde von Lentas entfernt, in Mires, einem schäbigen Straßendorf, dem staubigen Warenumschlagplatz der Bauern aus der olivenübersäten Ebene der Messara, da kennt man das Dorf unten zwischen den Felsen, weil der Fischverkäufer mit seinem Toyota jeden Tag durch seinen blechernen Lautsprecher auf dem Dach "frischer Fisch aus Lentas, frischer Fisch aus Lentas" ruft. Dieses Sprüchlein nehmen die Einheimischen so schnell niemandem ab, am wenigsten einem Fischverkäufer. Denn wenn ein Fischverkäufer immer nur frischen Fisch verkaufte, wäre das sein Ruin. Also bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Tiere geschickt zu mischen, die alten und die frischen. Und hin und wieder einem treuen Kunden mit einem bedeutungsschweren Augenaufschlag und flüsternder Stimme beim Abwiegen zu verkünden: "Die habe ich vor einer halben Stunde aus dem Wasser geholt", womit er meint, daß diese Fische diesmal wirklich die berühmten frischen Fische sind, von denen alle immer reden, die Griechen, die Restaurantbesitzer und die Touristen.

Dabei könnten die Fischkäufer in Mires ihrem Fischverkäufer Filipos vertrauen. Denn es gibt inzwischen so wenig Fisch, daß kaum einer alt wird. Wenn Filipos am späten Vormittag mit seinem Toyota die kleine Straße herunterrollt, um auf die drei Boote zu zu warten, die nachts noch hinausfahren und ihre gelben Netze in der blauen See spannen, dann ist die Ladefläche mit den vergammelten Holzkisten und den paar Eisstückchen leer. Und jeder Fisch, mit dem er wieder hinauffährt, ist fangfrisch. Filipos könnte ruhigen Gewissens auch drei Tage alten Fisch verkaufen, noch immer hätte er das Prädikat "frisch" verdient. So jedenfalls schreibt es das griechische Ladengesetz vor. In Deutschland könnte er ihn sogar sieben Tage lang auf Eis legen. Aber die Leute von Mires k ümmern sich nicht um das Gesetz. Der Fisch muß zappeln.

Filipos steht unten am Hafen, der nicht mehr als ein schmaler Betonstreifen zum Meer ist, und wartet auf Adonis, Charalabis und Michalis, die drei letzten Fischer. Vor allem auf Adonis wartet er. Adonis ist dunkler als die anderen beiden, er treibt sich ständig da draußen herum, zwischen Afrika und Europa. Er kennt die Gewässer, er ist der einzige, der auch im Januar und im Februar und im März noch hinausfährt. Aber nicht nur Filipos, auch die Einwohner von Lentas, die sich fast alle in Gastronomen verwandelt haben, warten auf Adonis mit seiner schwankenden "Agios Nikolaos". Der Name des Heiligen auf dem Schiffsrumpf soll Segen bringen. Geholfen haben die frommen Namen aber noch niemandem. Was zählt, sind Gespür und Erfahrung. Und man braucht Glück als Fischer. Charalabis fischt seit dreißig Jahren in den klaren Gewässern um Lentas, aber erst ein einziges Mal hat sich eine Dorade in seinem Netz verfangen. Das ist Pech.

Noch während Adonis auf dem Schiff sitzt, die Fische aus dem Netz klaubt und in die hölzernen Steigen wirft, schielen die Wirte und die Frauen zu ihm hinüber. Die großen Fische erkennt man auch aus der Ferne. Und große Fische sind selten, sind begehrt geworden. Denn die Touristen verschlucken bei den Kleinen immer die Gräten. Wenn die drei Fischer fertig sind, stapelt Adonis die Kisten auf sein kleines Polyesterkanu, das immer dort in der Bucht treibt, paddelt sie an Land, ohne daß der hölzerne Turm auch nur ein bißchen wankt, und setzt sie im Sand ab, drei, vier Steigen, wenn der Tag - oder die Nacht - nicht schlecht war. Diese Nacht war gut, "das Meer glatt wie Öl", wie die alten Olivenbauern sagen. Adonis hat frischen Oktopus, zwei Plastiktüten voll Sepia, einige seltene Zahnbrassen und eine ganze Steige roter Meerbarben. Filipos beäugt die Beute, ohne eine Miene zu verziehen. Er würde auch nicht mit der Wimper zucken, wenn Adonis einen riesigen Schwertfisch an Land zöge. Bewunderung ist schlecht f ürs Geschäft, und der Fischhändler bewundert seine drei letzten Fischer nur insgeheim.

Noch bevor neugierige Touristen oder Wirte einen Blick auf den Fang werfen können, sind die Kisten im blassen Toyota. Wenn die Neugierigen dann um sein Auto herumstehen, verscheucht Filipos sie mit einer einzigen Handbewegung wie lästige Fliegen,ö ffnet die Tür, zieht die alte, japanische Waage hervor, der kein Mensch mehr traut, versperrt mit dem Rücken allen die Sicht und beginnt mit dem Wiegen. "Die gehen nur steigenweise", sagt Filipos zu Charalabis, "das weißt du ja." "Wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich die Steigen nicht so voll gemacht", sagt Charalabis. Ihm ist ein ganzer Schwarm kleiner Barben ins Netz gegangen, drei Kisten voll. "Und der da, der verkauft sich nicht", sagt er zu Adonis. "Dafür geb ich dir nur einen Zehner." Adonis sagt nichts. Er macht ein gleichgültiges Gesicht. Er kennt seinen Filipos. "Und morgen braucht ihr gar nicht erst rauszufahren. Das ist viel zuviel Fisch, wo soll ich den verkaufen. " Adonis nickt. Er wußte, daß das kommen würde.

Dabei haben Filipos und seine Fischer die Abmachung getroffen, daß er ihnen alles abkauft, was sie an Land bringen. Dafür darf niemand Fisch von Adonis, Charalabis und Michalis kaufen, kein Wirt in Lentas, keine Hausfrau aus Lentas, erst recht kein Tourist. Erst, wenn alle Fische gewogen und verbucht sind, darf gekauft werden - von Filipos, für zwanzig Prozent Aufschlag. Alle stecken ihre Nasen in den Toyota, arbeiten mit den Ellenbogen, aber die breitesten hat Filipos. Er flucht und schimpft, weil alle nur die besten Stücke wollen. "Die in Mires wollen auch nicht nur Sardinen essen. Ihr ruiniert mein Geschäft." Es ist ein Drama, ein Theater, vor allem samstags, wenn sich auch noch die Hausfrauen von Lentas vor seiner Wagentür auf die Spitzen ihrer Plastikpantoffeln stellen, um besser sehen zu können. Sie hoffen, daß noch ein großer Fisch für sie übrigbleibt, wenn die Männer mit dem Einkauf fertig sind: der Wirt vom Restaurant Akti, der neue Pensionsbesitzer aus Iraklion mit dem Schnellboot oder der von der Bar, der ein dickes Bündel Scheine aus der Hosentasche zieht, als wären es noch die lumpigen Drachmen. Dann erst kommen die alten Männer dran und die Frauen.

Manchmal könnte Filipos seinen Toyota eigentlich ins Meer werfen. Denn manchmal verkauft er den gesamten Fisch schon in Lentas. Dann flucht er, setzt sich ins Kafenion und bestellt sich einen Kaffee. Weil Filipos ein wichtiger Mann ist in Lentas, fängt der Wirt ein Gespräch mit ihm an, auch Adonis, Charalabis und der Neue aus Iraklion sind da. Und manchmal - obwohl die Leute in Lentas sonst eigentlich nur von den Touristen, den paar Melonen und dem Euro sprechen -, manchmal kommt dann die Rede doch wieder auf die Fische und das Meer. Und dann beginnen sie wie früher zu erzählen, von den Schwärmen, die sie gesehen haben, weit draußen, von diesem mindestens vier, fünf, sechs Kilo großen Fisch, der neben dem Boot schwamm. Oder von den geflohenen Doraden aus den Fischfarmen in Agios Nikolaos, ganzen Schwärmen, die sich jetzt hier herumtreiben, aber noch niemandem ins Netz gegangen sind. Oder diese alte Geschichte vom neuen Hafen, den die Leute von Lentas zwei Buchten weiter bauen wollen, einen sturmsicheren, großen Hafen, so einen wie in Agia Galini, so einen, in dem auch die reichen Touristen
mit ihren Segelbooten ankern könnten. Dann würde sich auch hier etwas ändern. Sogar das Geld für den Bau war schon genehmigt, aber dann waren plötzlich einige im Dorf dagegen, fürchteten, daß sie ihre Taverne in der falschen Bucht gebaut hatten, wollten ihren kleinen Hafen hier behalten.

Der sturmsichere Hafen wurde nie gebaut. Deshalb ist es noch so still in Lentas. Dann schaut Filipos auf die Uhr und zieht sein Portemonnaie aus der Tasche: Der Wirt winkt ab. Der Kaffee geht auf ihn. Filipos macht jetzt ein zufriedeneres Gesicht, weil er wieder einmal weiß, daß es richtig war, das Fischerboot gegen den weißen Toyota zu tauschen, damals, als ihm das alles reichte, jede Nacht da draußen, im Finstern, mutterseelenallein in diesen kleinen Schiffchen unter dem viel zu weiten Himmel auf dieser viel zu schwarzen See. Und er ist glücklich, daß es noch immer der Fisch ist, mit dem er sein Geld verdient. Denn wer einmal Fischer war, der bleibt immer ein Fischer. Filipos steht auf und geht zur Tür. Dann dreht er sich noch einmal um und ruft Adonis zu: "Morgen, um elf, bin ich wieder hier." Adonis nickt. Er wußte, daß das kommen würde.

Frankfurter Allgemeine Zeitung - 2003
© Hans W. Korfmann

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