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Die bequemen Büßer

Hunderttausende pilgern jährlich auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Doch die wenigstens sind zu Fuß unterwegs

Von Hans W. Korfmann

Hunderttausende machen sich auf den Weg. Jahr für Jahr. Das Ziel heißt Santiago de Compostela. Oder besser: das Grab des heiligen Jakob. Die Wegstrecken dorthin sind nicht nur unterschiedlich lang, auch die Motivation und Art der Fortbewegung sind höchst verschieden. Flug und Bus gegenüber staubiger Landstraße. Vier-Sterne-Hotel inklusive Halbpension versus kirchliche Herberge und ein dünnes Süppchen zum Nulltarif. Die Pilger, die sich ab und zu auch begegnen, sind sich nicht unbedingt immer grün.

Der Jakobsweg ist einer der ältesten Pilgerwege durch Spanien. Geleitet vom glitzernden Sternenmeer der Milchstraße über seinem Haupt wanderte Jakob, einer der zwölf Apostel, immer gen Westen, durchquerte die iberische Halbinsel und kam bis ans Ende der Welt, das man am Cap Finistera, dem westlichsten Zipfel im Norden des Landes, vermutete. Ein Ort, an dem die Scheibe der Sonne so riesig und rot glühend im Atlantik versinkt, dass knapp 200 Jahre vor Jakobs Wanderschaft die römischen Heere des Dessimo Juno voller Furcht geflohen waren.

Jahrhunderte später trat dann ein Einsiedler namens Pelayo in die Fußstapfen des verehrungswürdigen Jakob, wanderte gen Westen, bis er am Ende des langen Weges über einer Lichtung nicht nur einen hellen Stern, sondern gleich einen ganzen Sternenregen niedergehen sah. Pelayo folgte dem göttlichen Zeichen und fand ein Grab.

Die Gegend war damals noch menschenleer. Inzwischen aber herrscht reges
Treiben an dem Ort, an dem der galicische Einsiedler die weit gewanderten
Gebeine des Predigers gefunden hat. Und inzwischen steht an dieser Stelle die
Kathedrale von Santiago de Compostela, dem heiligen Jakob von Compostela. Dass, wie neugierige Archäologen herausfanden, die 813 von Pelayo entdeckte Grabstätte damals gerade mal 200 Jahre jung war, irritiert die Gläubigen, die an der Gruft Schlange stehen, wenig.

Wie immer das alles in den grauen Vorzeiten auch gewesen sein mag: Nachdem Jakob sich mit dem Stock durchs Gebüsch geschlagen und mit seinen Jesuslatschen die ersten Zweige der Macchia niedergetreten hatte, wurde der dünne Trampelpfad der Hirten zu einem breiten Weg, und als im 12. Jahrhundert ein französischer Kleriker in einer Art Reiseführer bereits vier Routen nach Santiago beschrieb und über Unterkunftsmöglichkeiten, örtliche Gastronomie, Sitten und Gebräuche informierte, begann der „Run“ auf den Jakobsweg. Aus allen möglichen Winkeln der Welt brachen sie auf: Aus Jerusalem, Tiflis, Istanbul oder dem hohen Norden Skandinaviens – von überall her führten die Wege jetzt nach Santiago de Compostela.

Für die Bauern am Wegesrand boten die Wanderer eine willkommene Möglichkeit für zusätzlichen Geldverdienst. Zwar war die Übernachtung für Pilger in Kirchen und Klöstern noch kostenlos, doch lebten auch die gläubigen Wanderer nicht vom Schlaf allein. Sie mussten essen und trinken, und wenn der Winter kam mit den verschneiten Pässen, dann waren die kirchlichen Herbergen schnell überfüllt und die Reisenden machten sich auf die Suche nach Privatquartieren. Nicht selten dauerte es Monate, bis endlich der Frühling sie vom Zwangsaufenthalt erlöste. Im Winter war Hochsaison für die Zimmervermieter am Jakobsweg.

Heute sind es Frühjahr und Herbst. Die neuzeitlichen Wanderer kommen meist mit dem Flugzeug und gehen nicht mehr Tausende von Kilometern, sondern bestenfalls das letzte Wegstück. Dabei ist das Wandern nicht mehr so beschwerlich wie früher, die Herbergen stehen nun in geringeren Abständen zueinander, Humpelnde und Kranke müssen nicht auf der Strecke bleiben, denn aus den gewaltsamen Tagesmärschen sind erträgliche Kurzstrecken geworden. Das Zeichen der Jakobsmuschel neben dem Pfad weist unmissverständlich den Weg von Kirche zu Kirche, vom rechten Pfad kommt heute keiner mehr ab.

Zudem läuft neben dem Kiesbett des Fußweges längst eine asphaltierte Autostraße. Darüber rollen Busse und Mietwagen, besetzt mit jenen, die wie die Flugreisenden das Wandern ganz aufgegeben haben, aber dennoch die vielgerühmten Kathedralen sehen möchten.

Doch für jene, die auf dem ausgetretenen Fußpfad wandeln, haben die Autobusse blasphemischen Charakter. Die Wanderer mit ihren Stecken, den überladenen Rucksäcken und dem hochalpinen Schuhwerk würdigen die vollklimatisierten Ausgeburten des Tourismus keines Blickes. Auch wenn sich deren Kommen durch das leise Brummen in den breiten Ebenen von Kastilien und León etwa, die schon 150 Kilometer von der abwechslungsreichen Küstenlandschaft entfernt liegen, Minuten vorher angekündigt hat. Und auch, wenn es sonst weit und breit nichts gibt, das Abwechslung in die Monotonie der Landschaft bringen könnte.

Die wandernden Pilger möchten unter sich sein. Allein mit der Landschaft. Und
wenn sie sich dann doch einmal über den Jakobsweg laufen, die Wanderer und die Busfahrer, an irgendeiner jener unzähligen Kirchen, an einem jener gut markierten Aussichtspunkte, an einem dieser Pfähle mit dem Zeichen der Jakobsmuschel, dann kann es schon einmal passieren, dass der Wandersmann dem Busreisenden mit dem christlichen Wanderstecken droht. Und dass der wandernde Amerikaner mit den ausgelatschten Turnschuhen und dem alten Trapperhut überm Indianerhaar den Busreisenden auch noch das Fotografieren verbietet: „ Shut the fuck off!“

Die wandernden Pilger scheinen Gott näher zu sein. Bei den christlichen Veranstaltungen in den Gotteshäusern jedenfalls sitzen sie stets in der ersten Reihe, während die Busreisenden schüchtern in den Ecken stehen und sich allmählich wie Sünder und Betrüger fühlen.

So wächst bei den Businsassen das Unbehagen. Schließlich reist nicht jeder aus Bequemlichkeit mit dem Bus: Der eine hat ein künstliches Hüftgelenk, der andere schlichtweg keine Zeit, um zwei Wochen spazieren gehen zu können. Gleichzeitig aber wächst der Wunsch, wenigstens mit einem dieser Wanderer einmal ins Gespräch zu kommen, um auf diese Weise vielleicht doch noch so eine Art Absolution zu erhalten.

Immer häufiger jedenfalls ertönt im kleinen Reisebus die Meldung: „Pilger in Sicht!“, immer öfter kleben die Nasen an den Fensterscheiben. Und als ein einsames, kleines Männlein am Wegesrand auftaucht, das auf das stürmische Winken der Busfahrer tatsächlich kurz die Hand zum Gruß hebt, steht der Fahrer auf der Bremse. Alle stürzen hinaus, die Fotoapparate im Anschlag.

Darauf ist das Männlein nicht vorbereitet. Es lacht schüchtern und windet sich. Aber dann kommt es doch mit. Sie haben ihm eine Banane gereicht und versprochen, es mit hinauf zum Rabanal-Pass zu nehmen. Na also! Auch die Wanderer fahren heimlich mit dem Bus. Aber das Männlein hat auch schon ein gutes Stück Weg hinter sich, von Frankreich bis hierher, und zweihundert Kilometer sind es noch bis nach Santiago de Compostela. Zweieinhalb Monate ist es jetzt unterwegs, die Füße riechen schon ein wenig. Aber die Busreisenden sind glücklich über den Mann mit dem Stock, dem Hut, den alten, blauen Leinenturnschuhen, dem kleinen Rucksack, der winzigen Brille. Das ist keiner von denen mit Hochgebirgsausrüstung und Rückflugticket. Der ist echt!

Das Männlein rutscht unruhig auf dem Sitz hin und her. Doch die lachenden und
neugierigen Frauen machen ihm Mut, dem kleinen Buchhalter aus dem Dörfchen in Frankreich, der vor einigen Monaten seine Arbeit aufgegeben hat, um einem Schweigeorden beizutreten. Dem aber das Schweigen eines Tages zu lang wurde. Da hat er sich entschieden zu wandern. Den weiten Weg nach Santiago. Zweieinhalb Monate sind es jetzt schon. Durch Regen und Schnee ist er gekommen. Wie damals, die Pilger. Jaja, sagen die Busreisenden und nicken. Aber zwischen seinem Lächeln und ihrem Lachen, zwischen seinen Antworten und ihren Fragen liegen gewaltige Entfernungen. Liegen Hunderte von Kilometern, die er durch die Berge gewandert ist. Liegen fünfzig Jahre, liegt dieser Lebensweg, auf dem ihn irgend etwas immer weiter vorangetrieben hat, bis hierher. Bis zu diesem Pass.

Oben angelangt postieren sie das Männlein vor dem Gipfelkreuz. Und fotografieren ihren Pilger: Wanderstab über der Schulter, Muschel in der Hand, Herbergsstempel auf Papier. Und scheuen sich nicht, zum Gruppenfoto den Arm um ihn zu legen. Lächelnd nimmt er die ausgehandelten 20 Euro für das Fotografieren in Empfang, und er winkt sogar noch einmal freundlich zum Abschied.

So herrscht am Ende doch noch ein bisschen irdischer Frieden am Wegesrand, und selbst der alte Jakob kann zufrieden sein. Auch wenn das irgendwie schon wahrlich merkwürdige Menschen sind, die da auf seinen Spuren wandeln.

Der Tagesspiegel - 2003
© Hans W. Korfmann

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