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Insel vor dem Sturm

Im Norden Pinien bis zum Meer, im Süden nichts als Wind und Weite - das kleine Skyros konnte sich lange vor den Touristen verstecken. Jetzt verkauft Herr Georgoudis in seinem Laden immer mehr Souvenirs

von Hans W. Korfmann

Vor einigen Jahren hat Herr Georgoudis den Laden seines Großvaters übernommen. Früher verkaufte er Werkzeuge und Lebensmittel, doch allmählich schleichen sich mehr und mehr Souvenirs in die Regale. Der Fortschritt hat sich Zeit gelassen auf Skyros, verschont hat er die kleine Insel nicht. Der Laden von Herrn Georgoudis aber ist noch immer unentschlossen. Er kann sich nicht entscheiden, ob er ein Museum oder ein Souvenirgeschäft werden oder ob er nicht doch lieber einfach ein griechischer Gemischtwarenladen bleiben möchte, mit allem, was man zum Leben braucht: Reis, Nudeln, Zucker, Zigaretten, Heiligenbilder, Seife, Stoffe, Mörser, Patronengürtel, Steigbügel, Glocken, Teller, Messer, Eimer, Glühbirnen, Zwirn, Korbflaschen, Angelhaken und Petroleumlampen - für den nicht seltenen Fall, dass im Winter der Sturm den Strom kappt und die Insel vor Griechenlands Ostküste in Finsternis taucht.
Der Laden von Herrn Georgoudis liegt nicht ungünstig. Er liegt da, wo auch all die anderen Läden liegen: an einer steilen Gasse, die sich zwischen grellweißen Häusern den Berg hinaufwindet, auf dessen Gipfel schon seit Jahrhunderten eine venezianische Festung und seit nicht ganz so langer Zeit auch das Kloster des heiligen Georg versuchen, Gott im Himmel möglichst nah zu sein. Zu den Nachbarn des Herrn Georgoudis gehören der Fischhändler, der Bäcker, der Fleischer, der Ikonenmaler und der Apotheker - falls die Ikonen mal nicht helfen -, der Schreibwarenladen, der Spielwarenladen, die einfachen Kleidergeschäfte und natürlich die teuren Boutiquen und die neuen Geschäfte der Schmuckhändler und Kunsthandwerker, die sich im Gefolge der Urlauber auf der Insel ansiedelten.
Die ersten Sommerfrischler kamen Anfang der sechziger Jahre, kurz nach dem elektrischen Strom, der erreichte die Insel 1958. Damals gab es im Hafen ein Kaffeehaus, heute sind es drei kleine Restaurants, die am Ankerplatz Fisch und Garnelen braten. Die Insel hat keine Sensationen, sie ist ohne sie schön. Sie brauchte nicht einmal die dichten Tannen- und Fichtenwälder im Norden, die bis ans Meer hinunterreichen, eine Landschaft, die in Tourismusprospekten gerne mit den »Fjorden Skandinaviens« verglichen wird. Die Schönheit von Skyros liegt in der Bescheidenheit des Südens, in einer verlassenen, unter dem Licht des griechischen Himmels leuchtenden Steinwüste, in der es nichts gibt als Wind und Weite und riesige, gelassen über die Felsen ziehende Ziegenherden, angeführt von stolzen, langbärtigen Böcken mit gewaltigen Hörnern. Selten sind die steinernen Pferche für die zotteligen Tiere und noch seltener die Häuser der kleinen Familien, versteckt in windgeschützten Nischen.
Die steile Gasse mit Herrn Georgoudis’ Laden ist so etwas wie die Hauptstraße der Hauptstadt, die den gleichen Namen wie die Insel trägt. Diese Hauptstadt ist nur ein Dorf, allerdings das einzige der Insel. All die anderen auf der bescheidenen Landkarte von Skyros verzeichneten Ortschaften sind nur zufällige Anhäufungen verstreuter Häuser, Orte, deren Namen niemand außer den Skyrern auf eine Landkarte schreiben würde.
In Skyros Stadt aber drängen sich die Häuser und ihre Bewohner so nah aneinander, als hätte gerade eine Armada türkischer Kriegsschiffe Kurs auf die Insel genommen. Flachdach für Flachdach klettern die Behausungen den Berg hinauf, umgeben von winzigen Gemüsegärten und mickrigen Obstbäumen zwischen den dicht zusammenstehenden Mauern des engmaschigen Geflechtes alter Eselspfade.
Herr Georgoudis ist ein freundlicher Ladenbesitzer. Früher ist er zur See gefahren, so wie die meisten Männer der Insel, auf deren Bergen sich nur mühsam einige Olivenbäume halten und in deren Buchten nur kleine und anspruchslose Fischschwärme treiben. Ein paar Kaffeehauswirte versuchten, den Bauern, Hirten und Fischern das Leben mit Wein und Kartenspiel zu erleichtern, doch die beiden Inselpolizisten warfen stets ein wachsames Auge auf sie. Deshalb fuhren die Männer aufs Meer, und deshalb sah auch Herr Georgoudis etwas von der Welt. Hamburg, Rotterdam, Shanghai, Herr Georgoudis kann erzählen, von Rio und vom Karneval und vom Karneval in Venedig, »doch so etwas wie den Karneval von Skyros gibt es nicht zweimal auf der Welt! Wir tanzen eine ganze Woche lang - genau wie früher«.
Auch auf der Reeperbahn ist er gewesen, »in der Silvesternacht, ich kann Ihnen sagen…!« Nirgends hätten sie etwas bezahlen müssen, sie seien überall eingeladen gewesen, die griechischen Seefahrer. »Die Deutschen sind freundliche Menschen«, sagt Herr Georgoudis.
Dennoch sieht er den Touristen aus aller Welt, die die steile Gasse heraufkommen, mit ungutem Gefühl entgegen. »Sie werden jedes Jahr mehr!« Und sie haben schon ganz andere Inseln zerstört, größere als Skyros. Herr Georgoudis hat ein Leben lang nie etwas getan, was er für falsch hielt. Auch nicht für Geld. Jetzt aber steht er hinter der Ladentheke und ärgert sich, wenn die Touristen für das hölzerne, handgeschnitzte Schiff mit der filigranen Takelage nicht einmal acht Euro bezahlen wollen. »Ich weiß nicht, welche Kinder sich dafür in irgendeinem finsteren Winkel der Welt die Finger blutig schnitzen.« Und dann fügt er hinzu: »Eigentlich dürfte ich die gar nicht verkaufen. Oder ich müsste 50 Euro nehmen und die Hälfte davon nach Asien schicken.«
Früher, zu Großvaters Zeiten, kauften in dem Laden die Gastarbeiter von der Nachbarinsel Evia ein, von Mai an zapften sie im Norden der Insel aus den Pinien das Harz, das zur Konservierung des Retsinas gebraucht wurde. Großvaters Kunden kamen in diesen altmodischen trochadi herein - diesen klobigen Ledersandalen, die so aussehen, als hätte Diogenes sie unter einem Baum vergessen. Heute werden sie als Souvenir an die Wand gehängt. Jetzt spazieren die Männer in Badelatschen aus Plastik in Georgourdis Laden und kaufen teure Angelhaken, mit denen sie nicht einen Fisch fangen - »weil die nämlich von den Fischen keine Ahnung mehr haben!« Und die Frauen kommen in riesigen Hüten und winzigen Bikinis daher, als wäre Herr Georgoudis nicht immer noch ein Mann. Und kaufen literweise Sonnencreme. Während die Kinder die Regale nach Gummimonstern und Maschinenpistolen durchforsten. Herr Georgoudis seufzt.
»Uns hier auf Skyros hat doch die Armut geprägt, die Bescheidenheit! Wir sind nie habgierig gewesen. Mein Großvater hatte 1000 Messer, Gabeln, Teller und Gläser im Keller seines Ladens, die verlieh er zu den Hochzeiten. Aber er nahm keine Leihgebühr.« Herr Georgoudis vermisst das karge, einfache Leben, und er ärgert sich über die Kinder auf dem Schulhof, die mit dicken Croissants herumlaufen und die Hälfte wegwerfen. Er war froh, wenn er in der Pause eine Feige in der Tasche hatte. Jetzt werden die Menschen dick. »Sogar die Pferde verfetten«, sagt Georgoudis und zieht ein paar Fotografien aus der großen Lade. Es sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Frauen vor dem Spinnrad, Männern im Kaffeehaus beim Kartenspiel, von schlanken Hirten auf den Bergen - und von den kleinen Wildpferden von Skyros mit ihren stolz erhobenen Häuptern und der langen Mähne. Vor ihnen steht, in seiner Uniform, der Abgesandte des griechischen Landwirtschaftsministeriums, »der jedes Jahr nach Skyros kam, wenn im Frühjahr die Pferde eingetrieben wurden«. Im Winter lebten sie frei in der kargen Umgebung, im Mai legte man sie an die Leine, damit sie das bisschen Land beackerten, das sich zwischen den Steinen von Skyros zeigt. Noch immer laufen einige von ihnen frei umher. Doch seit sich Wissenschaftler an die Rettung des vom Aussterben bedrohten Tieres machen und dem Pony Futter geben, hat es zugelegt. Jetzt denken touristische Kleinunternehmer gar an die Vermarktung des Zwergpferdes - bei Touristen ist es sehr beliebt.
Denn auch wenn Herr Georgoudis in seiner Gasse immer mehr Fremde sieht, es ist noch Platz. Weiter oben am Berg, in einem der schönsten Cafés der Ägäis, werden am Abend nur wenige Touristen und noch weniger Skyrer auf den winzigen wie Theater-Balkone am Felsen hängenden Terrassen sitzen, um in der Abendsonne aufs Meer hinauszublicken. Auf jenes Meer, das Georgoudis 13 Jahre lange befahren hat. Und von dem er heimkehrte in den Laden des Großvaters, wo er als mahnender Alter immer wieder erzählt, wie das damals war. Mit dem Wunsch, den Fortschritt noch ein bisschen aufzuhalten und dem Wissen, dass niemand mehr, auch er nicht, ohne die Fremden ein Auskommen hat. Und - das gesteht er ganz zum Schluss - es ist ja nicht alles nur schlecht, was die Fähre bringt. Auch wenn das Gute lange zurückliegt.
Damals, Herr Georgoudis zieht vor Ehrerbietung die Augenbrauen hoch, war unter den ersten Sommerfrischlern nämlich auch Giorgos Seferis, der Dichter, der Nobelpreisträger. Seferis flüchtete vor der Hitze Athens auf die Insel. Seferis mochte Skyros, sagt Herr Georgoudis. Er liebte die bescheidenen, schmalen Sandstreifen und die kleinen Kiesstrände mit ihrem klaren Wasser. Am Horizont die vorgelagerten, völlig nackten Inseln Skyropoula und Sarakino und die noch kleineren, namenlosen, auf die im September die Hirten ihre Ziegen und Schafe verschiffen. Weil es dann irgendwann zu regnen beginnt und in den schmalen Fugen zwischen dem Gestein Gräser und Kräuter sprießen, bis im Winter ein grüner Schimmer die Inseln überzieht. Der Verzehr dieses zarten Flaums verwandelt die Ziegenlämmer von Skyros in eine Delikatesse. Aus ihnen werden zu Ostern jene nach Meer und Wind und Kräutern und süßer Milch duftenden Ziegenbraten. Lukumi, soll Seferis geflüstert haben, als er das erste Mal auf Skyros zu Tisch saß: »Wie türkischer Honig«.
So hat der berühmteste Gast der Insel ihren Einwohnern einige Anekdoten und Gerüchte hinterlassen. Aber nicht nur. Sto perijali to kryfo - »Am versteckten Strand«, lautet die erste Zeile eines berühmt gewordenen Gedichts. Mikis Theodorakis hat es vertont, »und Seferis hat es hier geschrieben, dahinten irgendwo«. Herr Georgoudis deutet mit der Rechten nach Süden. Es erzählt von einer Erleuchtung an einem Strand, der »so weiß wie eine Taube«, doch dessen Wasser »brackig« war. Es malt in knappen Versen eine Welt voller Widersprüche, von Vergangenheit und Zukunft und endet mit den Worten: »und änderten das Leben«. Erschienen ist das Gedicht bereits 1931 in dem Band Wende. Demnach müsste Seferis lange vor den Sommerfrischlern schon einmal seinen Fuß auf die Insel gesetzt haben. Herr Georgoudis ist sich sicher, das Gedicht muss hier entstanden sein. Es erzählt so viel von seinem Leben. Und die letzten Worte, die hat der alte Herr nie vergessen.

Die Zeit - 2007
© Hans W. Korfmann

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