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Wein auf dem Vulkan

 
 
foto: CC-BY 2.0 Carsten Frenzl/Flickr
 

Im Winter haben auf Teneriffa die Garagenwirtschaften Saison: Zwischen Ziegenstall und Plastiktrauben wird hier der junge Rote getrunken. Besucher lieben die rustikale Atmosphäre der Guachinches.

Von Hans W. Korfmann
Foto: CC-BY 2.0 Carsten Frenzl/Flickr

Wenn das Jahr seinem Ende entgegengeht, beginnt für Damián die Saison. Dann ist der dunkle, rote Wein, der im Norden Teneriffas auf den steilen Lavahängen zwischen Tacoronte und Icod de los Vinos wächst, allmählich trinkreif – und Damián verwandelt sein altes Bauernhaus nahe Orotava in ein Gasthaus. Er putzt die Terrasse, räumt das Werkzeug aus dem Schuppen, stellt Tische auf, breitet grün karierte Plastiktischdecken aus, platziert den alten Vogelkäfig mit dem hölzernen Kanarienvogel neben der Tür zur Küche und hängt an der Straße, wo ein Schotterweg zu seiner Finca Pino abzweigt, ein Schild mit rotem Pfeil an einen Feigenkaktus: Guachinche.

Der Pfeil am Kaktus ist der einzige Hinweis auf das improvisierte Weinlokal zwischen Ziegen- und Hühnerstall, zwischen Rebstöcken und kleinen Kartoffeläckern, in dem es traditionsgemäß nur jungen Hauswein, daneben Wasser sowie drei einfache Speisen geben darf. Vier Monate lang. Danach muss das Guachinche, ähnlich wie die deutschen Besenwirtschaften und die österreichischen Heurigen, wieder dichtmachen, und Damiáns Finca Pino wird wieder ein einfaches Bauernhaus sein. Jetzt aber sitzen unter dem Wellblechdach der Terrasse, im Windschutz einer Schilfwand, an langen Tischen drei Großfamilien mit Kindern und Kindeskindern. Das Bild wirkt wie aus der Zeit gefallen, als würde der Geburtstag eines alten Patrons begangen: Der gedeckte Tisch mit den schmucklosen Gläsern und den angejahrten Tellern in hellblauem Blümchendekor, die Kinder, die auf ihren Stühlen zappeln und die Eltern fragen, ob sie noch einmal zum Ziegenstall dürfen, während die Großeltern daneben sitzen und alles still beobachten. In der Ecke des Gastraums steht ein Fernseher, daneben ein Schiffsmodell aus Holz, auf einem Weinfass ein Glaskrug für den jungen Wein. "Mit leeren Kanistern, um losen Wein zu kaufen, kommt heute kaum noch jemand", sagt Damián, "heute kommen die Leute, um zwischen den Feldern zu sitzen, zu essen, zu trinken und zu reden. Hier können sie so laut und so lange reden, wie sie wollen."

Damián, um die 30, läuft in T-Shirt und Jeans durch den Schuppen und legt, während die Gäste die ersten Gläser leeren, kiloweise Hühnerschenkel auf den Rost über der rauchenden Holzkohle. Ein Hahn, der noch nichts ahnt von seinem nahenden Ende auf dem Grill, sucht unter dem Tisch nach Brosamen, zwei Katzen schnurren um die Beine der Großeltern. "So etwas gibt es nur noch in den Guachinches", sagt Manoli, eine Lehrerin aus Garachico, die extra aus dem Westen der Insel in den Norden gekommen ist, um zwischen den Weinbergen Rotwein zu trinken. "In den Bars und Restaurants darf doch nicht mal mehr ein Kanarienvogel singen." Manoli kennt die Guachinches noch aus ihrer Zeit als Studentin in den sechziger Jahren. "Damals gab es noch keine Diskotheken und kaum Bars auf Teneriffa", sagt sie, "und für die Bars musste man sich fein machen. Die Insel war arm und dunkel. Wenn wir ausgehen wollten, gingen wir in die Guachinches." Dort saßen die Bauern in Stiefeln, und das Trinken war günstig.

Günstig sind die Guachinches noch immer, das Glas Wein kostet 80 Cent, manchmal weniger. Und die Portionen auf den Tellern sind so groß, dass ein Murmeln der Verwunderung erklingt, wenn Damián die Fleischberge an die Tische bringt. Man lacht, man raucht, man darf mit den Händen essen, und keiner der Gäste stört sich daran, wenn die kleinen Gläser, aus denen der "Heurige" getrunken wird, irgendwann verschmiert sind.

Bei Suso, einem Guachinche, das weiter unten am Hang und noch etwas näher am Städtchen Orotava liegt, sind die Gläser noch blitzblank. Sonst aber trägt Susos kleine Weinwirtschaft alle wesentlichen Merkmale eines Guachinche: Es befindet sich in der schmucklosen Garage unter dem Wohnhaus, wo sonst Traktoren stehen, Obstkisten lagern, Werkzeuge und Reifen. Die Wände sind aus unverputzten Zementsteinen, auf den Tischen liegen Plastikdecken in schrillen Farben, auch die Stühle sind aus Plastik, nackte Glühbirnen beleuchten die Szene. Alles sieht so aus, als hätte man die Garage schnell für ein Fest herrichten müssen. Die Wände sind mit Flaschenkürbissen dekoriert, mit Bündeln getrockneter Kräuter und akkurat geflochtenen Zwiebelzöpfen. In der Ecke stehen ein Weinfass und ein Kühlschrank. So sehen viele der angeblich rund 400 Guachinches von Teneriffa aus.

Suso selbst wirkt mit seinem sauberen Hemd und seiner braven Brille eher wie ein Lehrer als wie ein Winzer. Er sitzt mit zwei jungen Frauen am Tisch, die sich gerade über die Plastiktrauben amüsieren, mit denen er für gemütliche Stimmung sorgen möchte. Ana María und ihre Freundin würde man mit ihren großen Sonnenbrillen eher in einer städtischen Bar vermuten als in einer abgelegenen Garage. Aber die beiden sind ausdrücklich auf Guachinches-Expedition. "Wir lieben den Charme der Garagen", sagt Ana María, "die ungeschminkte Atmosphäre. Wir brauchen keine Tapeten, keine lederne Speisekarte und keinen lächelnden Kellner im weißen Hemd. Wir wollen essen, was unsere Mütter immer gekocht haben. Und uns reicht ein einfacher, kräftiger Wein ohne Etikett."

Suso ist Mitglied einer Vereinigung der Guachinches. Er hört die Verteidigung der Saisonbetriebe gern und schenkt gleich noch ein paar Gläser seines fast violettfarbenen Weins ein. Die Guachinches, sagt er, seien wahrscheinlich in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden, als die Erträge der privaten Weinernte weit über den Eigenbedarf der Kleinbauern hinausgingen. Da die Häuser keine kühlenden Keller hatten, versuchten die Bauern, den Wein zu Geld zu machen, bevor er zu Essig wurde, und stellten Tische, Stühle, Gläser und Krüge auf den Hof. Heute gilt die ehemalige Notlösung längst als volkstümliche, mitunter sogar modische Alternative zum ordentlichen Restaurant – jedenfalls bei Einheimischen. "Für manche", sagt Ana María, "ist die Suche nach den echten, den ältesten, den besten Guachinches schon zu einer Art Freizeitsport geworden." Die Vier-Monats-Wirte sind stolz, dass sie mit ihren Garagenwirtschaften inzwischen zur Inselkultur gehören. Man liebt sie, selbst wenn sie nur selten eine Aussicht zu bieten haben. Der Blick vom Tisch fällt durch das geöffnete Garagentor meist auf die nächstgelegene Nebenstraße oder in einen schmucklosen Hof.

Doch es gibt auch ein paar Guachinches in exponierterer Lage. Die Garage des Viñedos Malpais in Santa Ursula etwa hängt unmittelbar über dem Meer, ein schmales Sträßchen führt entlang einer Schlucht auf einen Felsvorsprung, an den sich krampfhaft einige Rebstöcke klammern. Die Garage ist so groß, dass auch die Müllabfuhr einer Kleinstadt Platz darin fände, doch statt größerer Transporter stehen hier rund 200 Menschen beieinander, um Tische gruppiert, die aus alten Kabeltrommeln zusammengebaut sind. Auf den Tischen machen sich Teller mit frisch gebackener Schweineleber breit, mit Kichererbsen, Koteletts und Ziegenfleisch, dazu Salate, Suppen und Karaffen mit frischem Wein. Nicht alle Guachinches halten sich an die Drei-Gerichte-Regel, manche schenken auch Limonade aus, und vor Kurzem musste die Inselregierung klare Richtlinien erlassen, um die Restaurantbesitzer zu beruhigen, die über unlauteren Wettbewerb klagten. Das Mega-Guachinche Malpais macht eher den Eindruck eines ausgewachsenen Ausflugslokals, und Familienväter können sich hier auf Wunsch sogar eine steuertaugliche Rechnung ausstellen lassen.

"Unser Wein schmeckt nach Asche, exotischen Früchten, Sonne und Schweiß"

Auch das Guachinche El Cubano, eine aus groben Brettern zusammengenagelte, mit Bananenblättern abgedeckte Trinkstube zwischen den Feldern, ist ein kleiner Großbetrieb mit Aussicht geworden. Der Blick reicht weit über das Tal von Orotava und seine Weinberge. Wer hier trinkt, ahnt, wie diese Landschaft aus blühenden Gärten aussah, als noch keine Häuser, sondern nur Palmen, Kakteen, Drachenbäume und Pinien zwischen den von schwarzen Steinen ummauerten Parzellen standen. Alexander von Humboldt soll nicht weit von hier, nach reichlichem Weingenuss zu Tränen gerührt, ausgerufen haben: "Hier möchte ich leben."

Die Alten der Insel können sich noch an die Zeit erinnern, als im ganzen Tal nur sieben Laternen brannten. Menschen wohnten kaum inmitten der Gärten. Heute ist der breite Bergrücken, auf dem Weinberg an Weinberg grenzt, nächtens ein Meer von Lichtern, das sich bis zum alten Hafen von Orotava erstreckt. Nur bei Tageslicht kann man die kleinen Anger zwischen den Häusern, zwischen Obstbäumen und Gemüsegärten erkennen. Die meisten liegen etwa 300 Meter über dem Meer, einige trauen sich aber auch bis zu 1500 Meter hoch hinauf und kommen dem alles überragenden Kegel des Teide damit schon ein gutes Stück näher. Seit 400 Jahren wachsen Weinstöcke in der trockenen, vulkanischen Erde, und aus einheimischen Rebsorten wie Listan Negro oder Negra Moll werden inzwischen eine Reihe hervorragender Rotweine gewonnen. Die Guachinches-Wirte schenken eher bodenständige Tropfen aus. Entsprechend bodenständig fällt auch ihre Einschätzung aus. "Unsere Weine", sagt einer, "schmecken nach Asche, exotischen Früchten, Sonne und Schweiß."

Vom Schweiß ist gern die Rede, wenn es um die Arbeit geht. "Ich habe keine Lust, im Weinberg zu arbeiten. Das ist mühsam und bringt kein Geld", sagt der jugendliche Adrián, dessen Vater Juan Carlos ein Guachinche in San Antonio de la Matanza führt. Aber er lacht, wenn er das sagt, und scheint sich – wie die Gäste – sehr wohl zu fühlen im familiären Garagenbetrieb. Hier kann der Vater noch mit der Faust auf den Tisch klopfen, wenn es ihm wichtig ist, und zu später Stunde den Arm auf die Schulter eines Besuchers legen, wenn er Vertrauliches mitzuteilen gedenkt. Man ist unter sich und bleibt unter sich, egal, wer kommt. Fremde verirren sich ohnehin nur selten hierher. Adrián, der schon als Fünfjähriger auf ein Weinfass steigen und zur Unterhaltung der Gäste singen musste, kann sich nicht erinnern, dass jemals ein Tourist die Garage betreten hätte. Dafür sei einmal ein berühmter kanarischer Sänger hier gewesen, Pepe Benavente. Und dann, vor zwei oder drei Jahren, ein dicker Mann mit einer blonden Frau, der dem Jungen zwei Zwanziger beim Bezahlen reichte, viel zu viel! Adrián reichte einen Schein zurück. "Nein, nein, behalte das ruhig, wir trinken lieber noch einen." Am Ende blieb der Besitzer der Raffinerie von Santa Cruz bis Mitternacht und lud das halbe Dorf ein. Sie sprechen immer noch davon in San Antonio de la Matanza.

Aber eigentlich waren die Gäste im Stall von Juan Carlos immer einfache Leute. Und es waren schon viele hier, seit Elena, die Großmutter, auf die Idee kam, zwei Tische unter die Weinlaube im Hof zu stellen. Dreißig Jahre ist das jetzt her – damit ist das Guachinche von Elena eines der ältesten überhaupt. Streit, sagt der Sohn, habe es nie gegeben, "auch keine Betrunkenen". Alle hätten aufrechten Ganges den Hof verlassen. Sogar der alte Santiago, den sie im Dorf alle den Esel nannten. Er war schon über 90, als er vor ein paar Jahren abends mit einem Freund bei Juan Carlos auftauchte. Die beiden leerten eine Flasche nach der anderen, dann stand Santiago plötzlich auf, verschwand wortlos und ohne zu zahlen. Stand aber eine halbe Stunde später wieder in der Tür, als wäre nichts gewesen, und setzte sich erneut zu seinem Freund. Sie tranken weiter. "Und am Ende hatten die beiden Alten elf Flaschen Wein getrunken, ohne irgendetwas zu essen. Die stiegen ins Auto und fuhren heim, als wäre nichts gewesen." Das sind die Anekdoten, die man sich gern erzählt im Tal von Orotava, dem Tal der Guachinches, an den Stätten einer Trinkkultur, die es so nur auf Teneriffa gibt.

Anreise: Relativ günstige Flüge gibt es nach Teneriffa Süd (zum Beispiel easyJet, Air Berlin, TUI). Von dort mit dem Mietwagen oder mit dem Bus zunächst in Richtung Puerto de La Cruz. Fahrzeit etwa zwei Stunden, circa 10 Euro.

Unterkunft: Eines der schönsten Häuser im Norden ist das Hotel San Roque, es liegt im sehenswerten Stödtchen Garachico (Esteban de Ponte 32, 38450 Garachico, Tel. 0034-922/13 34 35). Die geräumigen Zimmer der historischen Musikschule kosten ab 135 Euro.
In La Orotava bietet das Hotel Rural Orotava (Carrera Escultor Estevez 17, 38300 Orotava, Tel. 0034-922/32 27 93) DZ ab 78 Euro an.
Eine größere Auswahl an Hotels und Gasthäusern in der Nähe der Guachinches findet sich in Puerto de La Cruz und in La Laguna.
Auskünfte erteilt das Fremdenverkehrsbüro in St. Cruz, Place de Europa, Mo bis Fr 9–20 Uhr, Sa 9–13 Uhr, Tel 0034-922/38 60 00

Wein: In El Sauzal, am nördlichen Ende des Weinanbaugebietes, gibt das Weinmuseum einen Überblick über die Geschichte des Weines auf Teneriffa. Das angegliederte Restaurant ist vorzüglich (Tel. 0034-922/57 25 35). Geöffnet Di bis So 10.30–22.30 Uhr.
Den Weg zu den Guachinches kennen am ehesten die Taxifahrer. Das Guachinche Elena liegt in der Verlängerung der Calle Toscas de San Antonio, die von der T 217 nördlich des Rathauses von Victoria nach Osten abzweigt.

Hinweis der ZEIT-Redaktion: Dies ist ein Text aus der gedruckten ZEIT. Bei der Recherche nutzen die Autoren gelegentlich die Unterstützung von Fremdenverkehrsämtern, Tourismusagenturen, Veranstaltern, Fluglinien oder Hotelunternehmen. Dies hat keinen Einfluss auf den Inhalt der Berichterstattung.

Die Zeit - 11.1.2014
© Hans W. Korfmann

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