Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Die Bohnen von Tolosa

Wer im Tourismus mitmischen will, braucht Attraktionen. Davon hat das Städtchen im Baskenland wenig – dafür aber umso mehr spitzenmäßige Souvenirs.

Von Hans Korfmann

Tolosa hat kein Meer vor sich und keine spektakuläre Gebirgslandschaft hinter sich. Es liegt irgendwo im Baskenland, am Rand einer Eisenbahnlinie, die von San Sebastian in die Hauptstadt Vitoria/Gasteiz führt und sich durch eine hügelige Voralpenlandschaft schlängelt. Immer dem Fluss entlang mit seinen kleinen Fabriken, seiner gepflegten Autostraße, den Gebrauchtwarenhändlern, den Tankstellen und den eleganten Kreuzungen. Am Ufer des Oria entlang mit den grünen, saftigen Weiden und ihrem Kuhbestand, an den Bauernhöfen und Wochenendvillen vorbei, die aus den steilen Hängen heraus auf die unbedeutenden Ortschaften mit ihren kleinen Bahnhöfen blicken.
Dass Tolosa nicht irgendwo zwischen Tegernsee und Garmisch liegt, sondern mitten im Baskenland, merkt man spätestens beim Betrachten der Hauswände, auf denen sich farbige Fäuste ballen. Oder an dem seltsamen Balkonschmuck, wo die roten Geranien gern durch die schwarz-weißen Stoffbanner der ETA ergänzt werden. Die Sympathiekundgebungen für die Unabhängigkeitskämpfer kommen ebenso von den Balkonen luxuriöser Villen mit englischem Rasen wie von den praktischen Fünfzigfamilienhäusern, schmucklosen Quadern, die immer wieder aus den Tälern des Baskenlandes hervorwachsen und gar nicht harmonieren mit der behäbigen Bauernhofatmosphäre rundum.
Gleich am Bahnhof empfängt den Besucher ein eindrucksvolles Exemplar dieser postromantischen Baukunst aus gelben Klinkern. Der bunte Kinderspielplatz im zementierten Hof ist so leer wie die Geschäftsräume im Erdgeschoss, an deren Glasfronten kleine Zettel mit den Telefonnummern der zuständigen Makler hängen. Viele der großen Schaufenster hat man zuzementiert, es scheint, als blicke die Stadt einer trostlosen Zukunft entgegen. Selbst die kreisrunde Stierkampfarena mit ihren frisch gestrichenen Türen hat geschlossen. Nur noch einmal im Jahr, zu Karneval, werden einige Pappstiere herumgetragen, spielen die Blaskapellen auf und tanzen die Tolosaner wie in den guten alten Zeiten.
So liegt Urkizu, wie das Städtchen sich auf Baskisch nennt, fast vergessen zwischen den Hügeln. Kein Meer, keine hohen Berge, kein Guggenheim-Museum und keine großartigen Feuerwerke – nichts. Außer den Bohnen. Sie stehen in jedem kleinen Reiseführer, die „Bohnen von Tolosa“. Auch wenn die kleinen, glänzenden Hülsenfrüchte eigentlich aus Amerika kommen, auch wenn sie nicht Tolosa-, sondern Kidneybohnen heißen. Hier, so sagen die Tolosaner, im kühlen Vorgebirge mit den immergrünen Gärten, ist der Boden besonders gut für ihr Wachstum, hier erst entfalten sie ihre ganze geschmackliche Pracht. Tatsächlich gibt es in der friedlichen Altstadt, wo sich neuerdings eine kleine Touristeninformation eingerichtet hat, einige Gemüsehändler, die bunt bedruckte Leinensäckchen mit den glänzenden „Perlen von Tolosa“ anbieten.
Auch die Speisekarten der wenigen Gasthäuser, die sich in den Gemäuern der winkligen Altstadt verbergen, lassen die berühmte Tolosabohne nicht unerwähnt, und längst rankt sich eine Sage um das Bohnengericht: Nichts, erzählt man, könne einen Mann, der den ganzen Tag über diese unendlichen Hügel gewandert sei, schneller wieder zu Kräften bringen als ein solcher Bohneneintopf. Die „Alubiada“ sei ein Segen für die Menschheit, und jeder, der diese Bohnen mit Wirsing und Wurst gekostet habe, käme mindestens noch einmal im Leben an diesen Ort zurück. Er grinst ein wenig, der Gemüsehändler, als er zwei neugierigen Touristen aus Barcelona von den Vorzügen der edlen Hülsenfrucht erzählt. Er spricht einwandfreies Spanisch, obwohl sie hier eigentlich lieber Baskisch sprechen. Aber der Gemüsehändler weiß, dass sich die Mühe lohnt. Sie werden es in Barcelona weitererzählen, und irgendwann wird sich die Kunde von der glänzenden Perle von Tolosa in ganz Spanien verbreitet haben.
Und noch ein anderes Wundermittel hält die kleine Stadt bereit, damit sie in ihrer Abgeschiedenheit nicht eines Tages ganz in Vergessenheit gerät. Wieder ist es eine Bohne, und auch sie kommt nicht eigentlich von diesen Hügeln, sondern ebenfalls aus dem fernen Amerika. Denn die baskischen Walfänger von der stürmischen Atlantikküste galten als besonders erfahrene Schiffer, und als die spanischen Seefahrer sich aufmachten, Amerika zu erobern, kehrten ihre baskischen Matrosen nicht nur mit der legendären Kartoffel, sondern eben auch mit zwei Hülsenfrüchten zurück. Doch während die Bohnen von Tolosa einige Jahrhunderte brauchten, um endlich zu Ruhm und Ehre zu gelangen, eroberte die Kakaobohne die Herzen der baskischen Aristokratie im Sturm, und die Basken zögerten nicht lange, sich das Handelsmonopol für die fremde Frucht zu sichern.
So kam diese Bohne schon früh nach Tolosa, und das Schokoladenmuseum fand Eingang in die Werbebroschüren der Stadt. Die Öffnungszeiten kennt man in der Touristeninformation nicht so genau: „Am besten, Sie fragen in der Konditorei nach, die ist gleich um die Ecke!“ Alles in Tolosa ist gleich um die Eckeô, sonderlich groß ist das 20000 Einwohner- Städtchen nicht. Und wenn Tolosa seinen ausgedehnten Mittagsschlaf hält, hat auch der Zuckerbäcker geschlossen. Meistens aber sitzen die Tolosaner hinter der Glasfront zwischen den alten Gemäuern bei Kuchen, Konfekt und Kakao. Die Konditorei mit dem exotischen Namen „Gorrotxategi“ ist der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. All die süßen Verführungen, die Pralinés, die Törtchen, die Kekse und die Schokoladen, werden nach den alten gorrotxategischen Familienrezepten zusammengerührt, geschmolzen und gebacken.
Der vorläufig letzte männliche Erbe der Schokolade-Rezepturen kommt gar nicht nach mit dem Abwiegen und dem Einpacken. Als es schon fünf Interessenten sind, die eigentlich keine Schokolade kaufen, sondern das Museum besichtigen möchten, holt er den Schlüssel, führt die kleine Gruppe um die nächste Ecke, öffnet und verschwindet wieder hinter die Ladentheke. Allein und seltsam unbeobachtet stehen die Besucher nun im Museum, eingerichtet in einem Raum, der längst zu klein geworden ist für diese außergewöhnliche Sammlung, die der Vater des amtierenden Zuckerbäckers, Joxe Mari Gorrotxategi, zusammengetragen hat. Der 70- Jährige ist gerade auf Reisen, um für die Stadt Tolosa zu werben, die ihn bei der Erweiterung seiner Sammlung nach Kräften unterstützt. Denn ob die Tolosabohnen es schaffen werden, das Städtchen ins Licht der Weltöffentlichkeit zu rücken, daran zweifeln alle noch ein wenig.
Begonnen hatte die Sammlung mit den alten Gerätschaften des Ururgroßvaters Gorrotxategi, seinen meterhohen steinernen Mörsern, den riesigen Mühlsteinen, die ein im Kreis laufender Esel drehte, um aus den Kakaobohnen jenes braune Pulver zu gewinnen, das in der europäischen Aristokratie gerade der letzte Schrei war. Alles, was an Maschinen und Gerätschaften über vier Generationen den Schokoladefabrikanten als Werkzeug gedient hatte, wurde aufbewahrt, und als der Konditormeister die Stadtväter eines Tages in seinen Keller führte und seine Idee von einem Schokolademuseum erläuterte, waren sie augenblicklich überzeugt.
Seitdem reist der alte Mann durch die Welt, sucht in den dunkelsten Kaschemmen nach Kakao- und Kaffeemühlen, Waffeleisen, Kuchenrollen, Kochtöpfen – allem, was auch nur im Entferntesten mit den braunen Riegeln zu tun hat. Und eines Tages wird aus der kuriosen Privatsammlung einmal ein richtiges, großes Museum werden.
Sie wird es also schon schaffen, diese Stadt, in der auch einmal die schönsten Baskenmützen im Land geschneidert wurden. Eines Tages wird auch die tellerartige Kopfbedeckung vor den Souvenirläden hängen, die Baskenmütze von Tolosa, die man heute in keiner Auslage der kleinen Stadt mehr findet. Die man nur noch auf den Köpfen der alten Männer sieht, die mit aufgekrempelten Hemden mittags in den Tavernen ihren Bohneneintopf löffeln, und die, wenn sie einmal müde sind, wohl auch einschlafen werden mit den Mützen auf dem Kopf. Denn Tolosa, das liegt nicht irgendwo, das liegt tatsächlich im Herzen des Baskenlandes, und Tolosa war tatsächlich einmal die Hauptstadt von Gipuzkoa, dem bedeutendsten Bezirk des Baskenlandes – fast ein Jahrzehnt lang, vor nun beinahe 150 Jahren.


Auskunft: Der Weg nach Tolosa führt in der Regel über San Sebastian. Von dort fahren mehrmals täglich Züge Richtung Vitoria/Gasteiz, Tolosa liegt auf halber Strecke, Fahrzeit ca. 40 Minuten.
Sollten Sie im November nach Tolosa kommen, dann erleben Sie „Die Woche der Bohne“, während der die Köche und Hausfrauen Tolosas einen Wettstreit um die beste „Alubiada“ auskochen. Beobachten Sie im Schokolademuseum in der Calle Lechuga, Tel. 0034/943670727, wie lang der Weg von der harten Kakaobohne zur zarten Schokolade war.
Die neu eingerichtete Touristeninformation an der Plaza Santa Maria h ält Stadtpläne für Sie bereit und hilft ausgesprochen gerne weiter. Auskünfte über die Region erteilt auch das Centro de Attracción y Turismoô in San Sebastian, Tel. 0034/943481166.

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

zurück