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Richtige Kerls in Fummeln

In der düsteren "Sonne" sorgt das Berliner Wirtspaar Diddi und Siggi dafür, dass sich die Kulturen mischen

Von Hans W. Korfmann

Als sich der feine Herr mit dem etwas unbeholfen aufgepuderten Mädchen an seiner Seite im 16. Stock des Merkurhotels in Leipzig beim Kellner lautstark über den Cocktail beschwerte, platzte Diddi die Hutschnur. Diddi nämlich versteht etwas von Kellnern und von Cocktails, Diddi steht bald ein Vierteljahrhundert hinter dem Tresen. Und von Frauen versteht er auch was. Auch wenn ihn die nie wirklich interessiert haben. Er hat auch einen geübten Blick für feine Herren. Und die gut betuchten Fernsehleute und Journalisten, die gerade von dort oben die Montagsdemonstrationen kommentierten und ihre Drinks und ihre Mädchen mit Westmark bezahlten, als wäre die Mauer schon gefallen, diese Herren waren keine feine Herren. Also sagte Diddi: "Der Kellner kann doch nichts dafür, wenn ihr Mädchen nichts von Cocktails versteht", und zwinkerte ein bisschen dabei.
Diddi muss in diesem Moment so ausgesehen haben wie Charles Chaplin, der sich immer dann empörte und einmischte, wenn irgendwo Unrecht geschah, wenn irgendwo ein schwaches, meist weibliches Wesen Hilfe brauchte. Diddi hat das schmale Gesicht Chaplins, diese immer freundlichen Augen, sogar dann, wenn er wütendsten und wüstesten Feinden gegenübersteht. Im Film wäre es jetzt zu einer Schlägerei gekommen, und Chaplin hätte vermutlich gewonnen. Aber das war kein Film aus Hollywood, das war die deutsche Wirklichkeit, und Diddi sagte: "Komm, Siggi, wir gehen! Das ist hier eh alles schon in westlicher Hand."
Eigentlich hätten sie auch gar nicht hier sein dürfen, die beiden Gestalten in ihren Parkas. "Wo wollen Sie denn hin?" hatte der Portier gefragt und sich Diddi und Siggi in den Weg gestellt. Aber Diddi und Siggi, die mit den Ossis auf der Straße, in der Kneipe und in der Kirche gewesen waren und die dann da oben diese Festbeleuchtung sahen, wollten wissen, wer da eigentlich etwas zu feiern hat. Nirgends in der Stadt war es so hell wie dort oben. "Entschuldigen Sie unseren Aufzug", sagte Diddi zum Portier, "aber wir kommen von der Basis. Wir sind eigentlich vom ZDF, und wir müssen da hoch, das soll morgen gesendet werden." Der Portier entschuldigte sich und begleitete die beiden zum Fahrstuhl.
Auch in Prag sind sie damals gewesen, vor der deutschen Botschaft, wollten mit eigenen Augen sehen, wie sich für die Menschen aus dem Osten die Tür in den Westen öffnete. "Da wurde ein Stück deutscher Geschichte geschrieben, und wir hatten die Chance, live dabei zu sein."
Reisefreudig sind die beiden schon immer gewesen. Einmal haben sie ihre ganze Kneipe mitgenommen, die ganze Belegschaft. "59 Mann und ein Kind!" Eineinhalb Jahre lang haben sie gespart, sie und die Stammgäste aus der "Sonne", dieser unauffälligen Berliner Eckkneipe aus den dunklen Fünfzigern mit ihren vergilbten Vorhängen, durch die kein Fremder einen Blick wirft. Mit dem Allesbrenner in der Ecke und dem dicken Ofenrohr, mit dem ganzen Trödel an der dunklen Holzvertäfelung, die auch das letzte Licht noch schluckt. So sieht sie aus, die "Sonne" von Diddi und Siggi.
Und dann sind sie losgeflogen, im Sommer 1989, für vier Wochen nach Amerika, und der Bezirksbürgermeister gab der Kreuzberger Delegation Geschenke und Souvenirs für die amerikanischen Brüder mit. Nach vier Wochen kehrte die Belegschaft der "Sonne" nach Berlin zurück, im Gepäck eine gravierte Urkunde: "Unseren Freunden aus Berlin zum Andenken an die Stunden im Deutsch-Amerikanischen Club of Central Florida Orlando". König, der Bürgermeister, sagte: "Ihr habt mehr für Kreuzberg getan als das ganze Bezirksamt."
Diddi und Siggi haben immer schon ihre Verbindungen gehabt zur Politik. Die Kreuzberger SPD trifft sich seit zwanzig Jahren im Hinterzimmer der dunklen "Sonne", wo Diddi seine gigantische Sparschweinsammlung untergebracht hat. "Früher waren das vierzig Leute. Jetzt sind's noch sechse."
Manchmal kommen Leute vom Film, drehen in der Kneipe oder bestellen etwas zu Essen in der Sonne. Als Harald Juhnke hereinkam, sagte Diddi: "Mann, Harald, was darf's denn sein? Ein doppelter Whisky?" - "Für mich nur 'ne Apfelschorle", sagte Harald. - "Ach, da ham wa ma den Juhnke im Haus, und dann isser trocken", sagte Diddi und war ernsthaft betrübt. Juhnke war nicht gut drauf an dem Tag, sie drehten die Szene hundertmal. Und dann, als sie endlich fertig waren und aus dem Hinterzimmer kamen, "da springt plötzlich unser Manne aus der Ecke auf: He, Harald, wie geht's denn so?" Harald war pikiert: "Ich wüsste nicht, dass wir uns kennen." - "Na klar, ausm Entzug, weeste nich mehr."
Diddi lacht gern. Und erzählt gern. Diese ganzen Geschichten, diese alten Geschichten aus der "Sonne", um die sich alles dreht. Aber viel Neues gibt es nicht im Moment, die Gäste sind immer die gleichen. Wenn einmal neue kommen, dann meistens von drüben, aus dem Altersheim. So wie dieser alte Preuße mit seiner Zigarre, der eines Tages auftauchte und dann jeden Abend in der "Sonne" verbrachte. Und der so heftig an die Tür pochte, als bei Diddi und Siggi eines Tages wieder mal geschlossene Gesellschaft war. Bis Diddi endlich zur Tür ging, in diesem roten, langen Abendkleid und mit der Perücke auf dem Kopf, und dem Preußen ganz entschieden sagte, dass heute geschlossen sei. Am nächsten Abend kam der Alte wieder und beschwerte sich, da sei so eine alte Hure gewesen, die ihn nicht hereingelassen hätte. Als Siggi dem alten Haudegen eines Abends keinen Schnaps mehr gab, ging er zum Imbiss nebenan, steckte sich eine Zigarre an und fiel vornüber. Und stand nie mehr auf. So wird es langsam ruhiger bei Diddi und Siggi.

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

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