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Neukölln, da freu ick mir

Döner, Dorfidyll und Hinterhöfe – der Berliner Problembezirk wird neu entdeckt

Im Nordwesten von Neukölln steht auf dem Hermannplatz zwischen Marktständen türkischer Gemüsehändler und deutscher Bratwurstverkäufer die Bronzeskulptur eines tanzenden Paares. Sie erinnert an die goldenen Zeiten des einstigen Vergnügungsviertels, das sich am Rand der alten Hasenheide entlang bis nach Rixdorf zog. »In Rixdorf«, sangen die Berliner, »spielt die Musike« und »Uff den Sonntag freu ick mir, ja dann jeht et raus zu ihr, Feste mit verjnüchtem Sinn, Pferdebus nach Rixdorf hin.«
Noch heute existiert, nicht weit vom Hermannplatz, das Ballhaus Rixdorf mit seinem knarrenden, altersgrauen Eichenparkett und den hohen Stuckdecken, doch nur wenige der Tanzpaläste haben die Kriegsjahre überstanden, gut versteckt in den unscheinbaren Hinterhöfen eines unscheinbaren Viertels: Neukölln.

Aus dem Vergnügungsviertel mit seinen Brauereien und Gartenlokalen ist längst ein Wohnbezirk geworden, 300.000 Menschen leben hier. Am Hermannplatz begegnet man Geschäftsleuten, Schulkindern, Junkies. Frauen eilen in die Kosmetikabteilung von Karstadt, Obdachlose wärmen sich nach kalten Nächten im warmen Gebläse der U-Bahn-Schächte. Nur die auswärtigen Besucher sind selten geworden. Verschreckt von Berichten über Ehrenmorde und Gewalt in den Schulen, machen sie einen Bogen um das Viertel. Um Berlins Schmelztiegel zu bestaunen, gibt es das benachbarte Kreuzberg, das mittlerweile den besseren Ruf hat. Dabei wohnen gerade in Neukölln Menschen aus 160 Nationen. Und hier war es, wo vor 15 Jahren der Multikultikult seinen schönsten Ausdruck fand.

Der Karneval der Kulturen ist ein touristisches Highlight Berlins, und er startet noch heute, wo er damals ersonnen wurde: am Hermannplatz. Neukölln aber lässt er sofort hinter sich auf seinem Weg nach Westen. Unverständlich, denn gleich hier, wo sie in die Kostüme schlüpfen, beginnt die Karl-Marx-Straße, breit genug und wie geschaffen für den großen Umzug. Kilometerweit führt sie im Bogen nach Süden, mit einer unterirdischen Parallele, der U7.

Er übertreibt, aber international ist Neukölln allemal. Das Hao-You-Duo an der Karl-Marx-Straße mit seinen sechs Tiefkühltruhen voll von exotischem Fisch für drei Euro das Kilo und Regalen mit lächelnden Buddhastatuen könnte ebenso gut in Saigon beheimatet sein. Im Oriental Shop kaufen blonde Schulmädchen schwarze Haarsträhnen und geflochtene Zöpfe, im deutschen Ein-Euro-Laden gibt es türkischen Mokka. Alles mischt sich in dieser Straße, die deutschen Neuköllner kaufen ihre Tomaten vom türkischen Gemüsehändler, und die Türken kaufen Fleisch bei Fleischermeister Marcus Benser, dessen Blutwurst immerhin schon den Grand Prix d’Excellence International gewann.

Auswärtige stehen nicht um die berühmte Blutwurst an. Neukölln ist touristisch kaum erschlossen. Hotels und Pensionen sind in Hinterhöfen versteckt. So wie das Rixpack, nicht weit von der felsigen Festung des Rathauses mit seinem Glockenturm, ein Rucksackdomizil mit Stockbetten für zehn Euro die Nacht und der Andeutung eines Gartens neben der rotbraunen Backsteinmauer. In der Glastür hängt ein Brief, »Für Sophie«, vielleicht der Abschiedsgruß an eine Reisebekanntschaft im Zehnbettzimmer. Die Wirtin vom Thüringer Hof in der Neckarstraße (heute Hotel Karibuni), die einst noch in Pantoffeln und Bademantel das Frühstücksei servierte, hätte den Kopf geschüttelt über diese jungen Leute, die nicht einmal eine Dusche im Zimmer brauchen. Aber die wissen sich durchaus zu helfen: »Wir gehen in die Ganghofer Straße, voll geil...«

Dort wartet zwischen überbordenden Gemüsekisten und Dönerbuden eine dieser vielen Überraschungen von Neukölln: ein Hallenbad aus der Jahrhundertwende, mit Marmor und Mosaiken, Säulenhallen und Balkonen über einem dunkelblauen Bassin. Unter dem hohen Kuppeldach liegt wie eine antike römische Therme das halbrunde Thermalbecken: Jenseits des Atriums, gleich über den Hof befindet sich noch immer das Gebäude der alten Bibliothek, die man eingerichtet hatte, um nicht nur den Körper, sondern auch den Geist zu pflegen. Trotz des denkmalgeschützten Ambientes ist das Bad mit seinen Wasserbombenspringern und meckernden Rentnern ganz in den Neuköllner Alltag integriert.

Das ist das Gute an einer Stadt, die nie genug Geld hatte, um Altes einzureißen und Neues zu bauen: Vieles ist stehen geblieben und heute historisch. »Erhalten« wäre allerdings oft schon zu viel gesagt. Nur fünf Minuten vom Badehaus entfernt eröffnete in einer Passage, die von der Karl-Marx-Straße in die Richardstraße führt, vor mehr als hundert Jahren eines der ersten Lichtspielhäuser Berlins. Von den Sechzigern an diente es nur noch als Möbellager, der Abriss des Kinosaals drohte. Dann fiel die Mauer, und es floss tatsächlich auch ein bisschen Geld nach Neukölln. Heute rattert hinter dem kleinen Fenster des stuckverzierten Passage-Kino mit seiner Empore wieder der Projektor. Ein engagiertes Programmkino erinnert an die große Zeit des Filmtheaters.

Berliner Kirchen und Museen bröckelten über Jahrzehnte vor sich hin, und auch in die Hinterhöfe mit ihren Fabriketagen, in denen schon zu Gründerzeiten Tag und Nacht Maschinen lärmten und für den Aufschwung sorgten, zogen nach dem Abschwung Theater, Künstler und Musiker ein. Heute sind viele dieser Gewerbehöfe aufwendig saniert, Touristen werden durch Berggruens Sarotti-Höfe in Kreuzberg geschleust, die Hackeschen Höfe in Mitte stehen längst in jedem Reiseführer. Neuköllns Höfe werden gerade erst entdeckt.

An der U-Bahn-Station Karl-Marx-Straße verbirgt sich zwischen dem Sparcenter und den Vitrinen türkischer Handyverkäufer ein Relikt aus der Ära der Tanzpaläste: das Café Rix, seinerzeit bekannt als Niesigks Salon. Hier sieht man keine armen Neuköllner mehr, die nach dem Besuch im Sonnenstudio einen Filterkaffee trinken. Hier sitzen im Winter Gäste mit originaler Karibikbräune vor dem Laptop, schlürfen unter goldenem Stuck und imposanten Ventilatoren ihren Latte und reden über Kunst. Das alte Gasthaus mit Pferdewechselstation hat es ins 21. Jahrhundert geschafft. In den großen Ballsaal neben dem Café ist Kleinkunst eingekehrt, es spielen keine Tanzorchester mehr, sondern die blondierten Rixdorfer Perlen, und aus dem Salon ist inzwischen der Heimathafen Neukölln geworden – eine Bühne, die beweisen möchte, dass auch Kultur ein Stück Heimat ist.

Kurt Krömer, der populärste Entertainer des verrufenen Viertels, hat die Schirmherrschaft über den »Hafen« übernommen und vor zwei Jahren einen Songcontest ins Leben gerufen. Gesucht wurde die »Hymne für Neukölln«. Es gewann Kalle Kalkowski, der einst als Gründer der Band Elektrische Männerwelt Jimi Hendrix in Neuköllner Mundart übertrug. Kalkowski ist keine Kunstfigur, er ist so echt wie die Hinterhöfe. Er arbeitet als Malermeister, nur abends tauscht er den weißen Leinenkittel gegen die schwarze Lederjacke und sorgt für Stürme des Beifalls im Heimathafen.

Kalkowski ist hier aufgewachsen, er hat die Lehrer geärgert und in der Fleischerei Jonas Stachelbeerwein geklaut. »Wir haben keine Jugendsünde ausgelassen.«
Aber bis heute hält er seinem Viertel die Treue. »Neukölln«, singt Kalle, ist »nur Beton, mit Parolen übersprüht, Plakate dick wie Leder, 2000-mal überklebt... Neukölln, du alte Hure – Neukölln, du Niemandsland...«

Der Malermeister steht auf den ungeschminkten Bezirk mit seinen Billigläden, Spielhöllen, Eckkneipen und Schultheissleuchten, mit diesen Hinterhöfen, jeder eine Welt für sich. »Das ist doch schön hier«, sagt Kalle Kalkowski. Vor ihm, in einem Kirschbaum, sitzen Kinder. Der Baum steht keine 200 Meter vom Café Rix entfernt, und es ist noch nicht lange her, da führte ein kleiner Fußpfad von der lauten Karl-Marx-Straße weg durch ein verwildertes Stück Brachland in die ländliche Idylle Rixdorfs. Heute ist aus der Brache der Comeniusgarten gewachsen mit Obstbäumen, einem Kräutergarten, einem Wasserlauf mit hölzernen Stegen und winzigen Auen; lauter kleine Inseln des Glücks, auf denen im Sommer manchmal Studenten in der Sonne liegen, die Bücher zugeklappt neben sich. Der Garten ist ein liebevoll gepflegtes Refugium mit Eingangstor. Einlass finden nur jene, die an der verborgenen Klingel läuten, und auch nur dann, wenn der Gärtner da ist. Die 500 Kinder, die zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße wohnen, wissen alle, wie man hineinkommt.

Auch Kalle Kalkowski weiß es. »Hier«, sagt er, »da im Keller, da haben wir mit unserer ersten Band geprobt. Vor 30 Jahren.«
Der Großstadtrocker steht vor einem kleinen, einstöckigen Häuschen mit bunt lackierten Fensterläden. Rixdorf ist keine Großstadt mehr, in Rixdorf verwandelt sich die Stadt in ein Dorf. Filmteams reisen an, um vor der Kulisse kleiner Bauernhäuser und Obstgärten Werbespots für biologische Landkost zu drehen. Am Richardplatz steht vor einer winzigen Kirche ein Model im weißen Brautkleid. Vor der Dorfschmiede spielen Kinder mit Murmeln, und das Gasthaus Louis mit seinen karierten Decken und den laut Speisekarte »vermutlich größten Schnitzeln Berlins« würde man eher im Burgenland vermuten als in Neukölln.

Vom Richardplatz führt eine schmale Kopfsteinpflasterstraße zurück zum Karl-Marx-Platz mit seiner deutschen Gastwirtschaft und dem sonntäglichen Frühschoppen. Man hört schon den Lärm der großen Straße, doch dann führt, wie durch ein Nadelöhr zwischen den Häusern, ein Weg vom Platz des Philosophen zum Böhmischen Gottesacker, einem von Kastanien beschatteten Friedhof zwischen unverputzten Ziegelmauern und Mietshäusern mit Wäscheständern auf den Balkonen. Ein Ort absoluter Stille.

Vor 250 Jahren lag der Gottesacker noch am Stadtrand. Inzwischen ist Berlin weit über das alte »Rieksdorp« hinausgewachsen. Auch das Dörfchen Britz mit seiner Kirche aus dem 14. Jahrhundert und dem von Weiden umstandenen Weiher hat die Stadt verschlungen. Im Britzer Schloss, der selbst ernannten »Perle des Bezirks«, versammeln sich keine Adligen mehr zur Jagd; und im alten Gutshof werden keine Kühe mehr gehalten. Heute erzählt im Gutshof ein Museum Geschichten aus Neukölln: vom 20.000 Jahre alten Unterkiefer eines Mammuts, der hier gefunden wurde, oder von Atze Becker, dem Kapitän von Tasmania 1900, dem erfolglosesten Bundesligaklub aller Zeiten. Gegenüber, im Gesindehaus, hat der Sternekoch Matthias Buchholz sein Gartenlokal eröffnet, während in die alten Stallungen ein Theater einzieht. Britz ist das geworden, was einst die Hasenheide am Hermannplatz mit ihren Tanzlokalen war: ein Reiseziel für Sonntagsausflügler.

Weit ist es nun nicht mehr bis zum Ende der Stadt. Ein letztes Mal bäumt Berlin sich auf, die Gropiusstadt mit ihren Hochhäusern ragt in den Himmel. Östlich davon führen Kieswege durch die Sumpflandschaft des Rodower Fließes bis zum südlichsten Zipfel von Neukölln, wo sich ein kleiner Hügel erhebt, der Dörferblick, und den Blick freigibt auf die Rieselfelder und die Ansiedlungen von Wassmannsdorf und Kleinziethen. Die Sitze der ehemaligen Kolchosen sind auch 22 Jahre nach dem Mauerfall noch so winzig wie zur DDR-Zeit. Nur in Schönefeld ist der Fortschritt angekommen, weit wehen die Staubfahnen der Flughafen-Großbaustelle über das Land.

Vom Dörferblick führt am Rand der Stadt entlang der Mauerweg zurück zur Gropiusstadt. Hier sitzt Ali vor seinem Reitstall, seit 40 Jahren schon. Er trinkt Tee und plaudert mit Pavel aus dem 17. Stock. Pavels Kinder können die Pferde vom Fenster aus sehen, manchmal kommen sie zum Reiten herunter. Einst lagen vier Reiterhöfe im Schatten der Mauer, und »am Wochenende standen die Menschen Schlange«, um auf dem Rücken von Alis Pferden zwischen dem Todesstreifen und der Hochhauskulisse zwei Runden zu traben. »Das waren goldene Zeiten«, sagt Ali. Der Koppelzaun des Reitzentrums Gropiusstadt markierte gleichzeitig das Ende von West-Berlin. Das sorgte für morbiden Charme und hielt Konkurrenten fern.

Heute stehen große Herden mit Rassepferden am Stadtrand, vor ihnen die weite Prärie des Ostens. Ali auf seinem schmalen Streifen hat nur noch fünf Pferde im Rennen. Der Fall der Mauer war »eine Katastrophe« für ihn. Er sitzt auf einem alten Stuhl, neben ihm trocknen auf einem Brett rote Paprikaschoten in der Sonne. Kürzlich haben sie hinter ihm einen Wanderpfad, den »Mauerweg«, mit Schildern ausgestattet und asphaltiert. Vielleicht wird er ein paar Kunden zurückbringen.

Ali hebt die Schultern. Veränderungen liegen ihm nicht. Sein Pferdehof sieht noch aus wie 1989. Irgendwie ist sein Stall auch so ein Niemandsland, so ein Neuköllner Hinterhof – in dem die Zeit ein bisschen langsamer vergeht.

Unterkunft: Nicht weit vom Rixpack mit seinen günstigen Schlafmatratzen in der Karl-Marx-Straße 75, Tel. 030/54715140, www.rixpack.de, Stockbett ab 10 Euro, bietet der Erlanger Hof (3 Sterne), Erlanger Straße 4, Tel. 030/62989975, www.erlanger-hof.de, DZ ab 69 Euro an. Noch immer verführerisch, wenn auch ohne die alte Dame im Morgenrock, ist die Pension im ehemaligen Thüringer Hof, Neckarstraße 2, Tel. 030/6871517, www.karibuni-hotel.de, mit DZ ab 46 Euro. Abseits der Flaniermeilen liegt das Estrel, Sonnenallee 225, Tel. 030/683122522, www.estrel.com, mit 1125 Zimmern, DZ ab 169 Euro

Verpflegung: Neben dem Café Rix und der Hofperle bei der Neuköllner Oper befindet sich am Richardplatz in der Nähe des Gasthauses Louis das hübsche Gartenlokal Villa Rixdorf, www.villa-rixdorf.com. Derzeit immer voll ist das Lavanderia Vecchia in der Flughafenstraße mit echt italienischer Küche zu echt Neuköllner Preisen. Als Star der Neuköllner Kochszene wird der mit einem Stern dekorierte Matthias Buchholz gehandelt: Er serviert auf dem Gutshof in Britz Menüs ab 37 Euro, Hauptgerichte ab 10 Euro

Ausflüge: Neben Alis Reitzentrum Gropiusstadt am Kölner Damm 1, dem Körnerpark, der Hufeneisensiedlung, dem 90 Hektar großen Britzer Garten mit seiner Windmühle und dem See ist vor allem der alte Britzer Dorfkern mit dem Schloss ein beliebtes Ausflugsziel. Sehr sehenswert ist das Museum im Gutshof Britz: die wunderbar inszenierte Dauerausstellung »99 x Neukölln« erzählt anhand von Alltagsgegenständen die Geschichte des Viertels. Schon ein Blick ins Internet lohnt sich: www.museum- neukoelln.de/ausstellungen-99-neukoelln.php

Theater: Die Programme von Neuköllner Oper und Heimathafen eignen sich für Neuankömmlinge hervorragend als Einführung in die Mentalität des Viertels. Manchmal gastiert das Improvisationstheater »Die Gorillas« mit seinem lustigen »Filmeraten« in Neukölln. Danach empfiehlt sich ein Besuch in einer der letzten verrauchten Jazz- und Blueskneipen Berlins, etwa beim Sandmann in der Reuterstraße

Infos: Als einziger Berliner Bezirk besitzt Neukölln so etwas wie eine eigene Touristeninformation. Im Eingangsbereich des alten Rathauses (U-Bahnhof Karl-Marx-Straße) liegen Stadtteilführer, Karten und Informationsmaterial zu Geschichte, Sehenswürdigkeiten und Gastronomie aus

Die Zeit - 27.10.2011
© Hans W. Korfmann

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