Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Im Tauschrausch

Das Geld ist knapp, bei einem Kreuzberger Verein wird deshalb in Zeit und Arbeit statt in Euro und Cent gezahlt – und der Kreuzer rollt

Von Hans W. Korfmann

Einst reihte sich in den Häusern ein Laden neben den anderen, gegenüber dem Urban-Krankenhaus herrschte Leben – mit Apotheken, Blumenläden, Bäckern. Jetzt sind die alten Holzläden alle heruntergelassen, an jedem zweiten hängt ein Zettel: Zu vermieten. Nur einige dunkle Kneipen haben sich halten können, eher schlecht als recht, selbst das Gesicht des Bestattungsunternehmers in der Urbanstraße blickt finster vom Schreibtisch herüber.
Nur in der Nummer 21, in dem alten Offizierskasino, bewegt sich noch etwas. Denn aus dem Haus der stolzen Uniformträger und geschlossenen Gesellschaften ist das Nachbarschaftshaus Urbanstraße geworden, in dem sich Seniorinnen und Senioren beim Tanz vergnügen oder bei Tee und Kaffee plaudern. Und in dem sich der Kreuzberger Tauschring trifft. Über dreihundert Mitglieder zählt der nicht eingetragene Verein. Der vorzivilisatorische Tauschhandel scheint in den Euro-armen Zeiten seine Renaissance zu erleben.
" Als wir den Tauschring gründeten, taten wir das noch aus ideologischen Gründen", sagt Klara Brendle, diplomierte Volkswirtin, die zu den Initiatoren zählt. "Die meisten, die zu uns kamen, waren politisch engagiert", beschäftigten sich mit Ökonomie und Marktwirtschaft und diskutierten Kennedys Buch vom Geld ohne Zinsen und Inflation. Doch in letzter Zeit kommen keine Intellektuellen mehr. Jetzt kommen Leute, für die der Tauschring ein Rettungsring geworden ist.
Denn im Tauschring braucht man keine Euro oder Dollar. Man zahlt mit Zeit und Arbeit. Es macht keinen Unterschied, ob einer Computer repariert oder Fenster putzt. Der Wert der Arbeit wird in Lebenszeit gemessen, also in Arbeitsstunden. "Wenn jemand zum Beispiel Rückenschmerzen hat, sich aber keine Massagen leisten kann, dann findet er hier mit Sicherheit einen sachkundigen Masseur", sagt Klara Brendle. Einen, der auf dem freien Markt keine Arbeitsstelle gefunden hat. Der Masseur wiederum braucht einen Handwerker für sein Bad. So wird die Arbeit getauscht. Das ist das simple Prinzip.
" Die Idee ist ja uralt", sagt Klara Brendle. Dennoch wurden die sonst so pfiffigen Kreuzberger erst auf die geldlose Alternative aufmerksam, als sie auf einem Kongress zum Thema "Wirtschaft von Unten" von 400 englischen so genannten Local Exchange & Trading Systems hörten. Am 27. Februar 1995 zogen sie nach und gründeten den ersten Berliner Tauschring. Inzwischen sind es 26 geworden in der ganzen Stadt, und acht Jahre nach der Gründung konnte die Kreuzberger Vereinigung eine erste und durchaus erstaunliche Bilanz ziehen: Seit 1995 wurden 3715 Tauschaktionen im Gegenwert von 49 209 Arbeitsstunden verbucht. Was einem Umsatz von 1 000 200 so genannten Kreuzern entsprach. Mit diesen Zahlen trat der Verein im Jubiläumsmonat an die Öffentlichkeit: eine Million Kreuzer – das roch doch nach Kapital.
Und nach Schummelei. Denn auch wenn sich die Tauschhändler von Pfund, Dollar und Euro verabschiedet hatten, ganz ohne Währung ging es offensichtlich nicht. Wozu sonst hat man die Kreuzer in den Umlauf bringen müssen. Haben sie nicht dem Kind nur einem anderen Namen gegeben? Und stand nicht heimlich die alte Mark Modell für den Kreuzberger Kreuzer? Denn im Grunde lässt er sich jederzeit umrechnen: Eine Arbeitsstunde entspricht etwa zwanzig Kreuzern oder zwanzig ehemaligen D-Mark, und damit rund zehn Euro. Schließlich wird allen Mitgliedern nahe gelegt, eine Stunde Arbeitszeit mit jeweils zwanzig Kreuzern zu berechnen. Dennoch ist der Kreuzer keine Währung im üblichen Sinn. Er ist im Grunde eine Zeiteinheit. Zeit aber ist begrenzt und lässt sich nicht vermehren. Also lassen sich auch Kreuzer nicht zu Kapital anhäufen. Kreuzer existieren auch nicht als Münze oder als Geldschein, sondern lediglich auf einem Konto; für den Transfer gibt es Tauschmitteilungen. Darauf steht beispielsweise: 40 Kreuzer für zwei Massagen von je einer Stunde oder 40 Kreuzer für die Abdichtung des Klosettabflusses.
Auch bei der Handhabung dieser Konten verhält sich die Tauschringverwaltung anders als die branchenüblichen Banken. Zwar können auch die Kreuzberger Konten ins Minus rutschen, wenn der Kontoinhaber mehr Dienste in Anspruch genommen als geleistet hat. Und bei einem Minus von mehr als 500 Kreuzern wird auch im Tauschring die Sache kritisch. Doch die Kreuzberger Bank bestraft nicht mit Soll- Zinsen, sondern ermahnt zum baldigen Ausgleich, indem sie beispielsweise dem Handwerker nahe legt, er möge doch bitte einige Bäder reparieren, um Kreuzer auf sein Konto zu transferieren. So vermittelt die Bank dem ins Defizit gerutschten Kontoinhaber Arbeit.
Anders herum gilt: Bei einem Plus von 1000 Kreuzern runzeln die Banker auch die Stirn, denn angestrebt wird ein "ausgeglichenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen". All jene, die zu weit ins Plus oder ins Minus gerutscht sind, werden in der monatlich erscheinenden Zeitschrift unter der Rubrik "Patschenhelfer" aufgelistet. Damit jeder im Kreis die Möglichkeit hat, zur Regulierung beizutragen. Und damit auch jeder weiß, mit wem er da eigentlich handelt. Die Kontostände sämtlicher Mitglieder innerhalb des Tauschringes sind deshalb auch öffentlich.
Jeder, der dem Kreis beitritt, erhält ein so genanntes Scheckbuch mit den Tauschmitteilungen. Und damit einen Kredit von 500 Kreuzern. Der Kreuzer ist eben keine bare Münze, die man hin- und herreichen kann. Man bezahlt mit dem auf der Tauschmitteilung festgehaltenen Versprechen einer gleichwertigen Gegenleistung. Das System basiert auf gegenseitigem Vertrauen, zu viele schwarze Schafe würden es kollabieren lassen. Es funktioniert nur im kleinen, überschaubaren Kreis.
" Aber wir werden noch viel mehr", sagt eine junge Frau. "Irgendwann gibt es nur noch Kreuzer in Kreuzberg. Dann sind wir wirklich mal autonom." Sie meint das nicht besonders ernst. Doch argwöhnische Politiker beäugten den Tauschring schon im Januar 1997 und stellten die Frage, ob dieser Ring nicht ein blühender Handel für Schwarzarbeit sei. "Solange sich hier niemand bereichert – und das verhindert ja das 1000 Kreuzer- Plus-Limit –, kann man den Vorwurf der Schwarzarbeit nicht aufrechterhalten", sagt Klara Brendle. "Wenn man seiner Nachbarin den Rasen mäht und dafür einen Kuchen bekommt, dann ist das eben noch keine Schwarzarbeit."
Dennoch wurde die kleine Anfrage einer Abgeordneten bezüglich der Legitimität des Kreuzberger Tauschringes im Deutschen Bundestag vorsichtshalber nur mit einer Billigung und nicht mit einer grundsätzlichen Genehmigung beantwortet: So lange das alles im Rahmen der Nachbarschaftshilfe laufe, habe man keine Bedenken.
" Aber man muss sich das eben mal vorstellen", sagt ein Mann vom Tauschring: "Halb Kreuzberg mit seinen Arbeitslosen hat kein Geld mehr, und allmählich bildet sich so etwas wie eine Subgesellschaft, mit einem eigenen Markt und einer eigenen Währung. Und keiner von denen zahlt Steuern. Dann hätten die ein echtes Problem."
Aber so weit ist es noch nicht. Die 30 Seiten der internen Monatszeitschrift mit dem schönen Namen "Straßenkreuzer", in der die 300 Mitglieder ihre Dienste und Tauschwaren anbieten, überraschen mit Erstaunlichem, aber längst nicht allem Lebensnotwendigen. Die Inserate lauten zum Beispiel: ein mexikanischer Strohhut (acht Kreuzer); Tonbierkrug mit Abbildung Römer Frankfurt (15 Kreuzer); original Blusen von der Deutschen Post (Sieben Kreuzer); gieße Blumen und führe Hunde aus; Tarotberatung zu speziellen Lebensthemen; Spanisch lernen; Fahrrad flicken; Hilfe beim Verfassen von Bewerbungen.
Auch an den jeweils letzten Sonntagen des Monats, wenn im großen Saal des ehemaligen Offizierskasinos die Tausch-Leute ihre Tische aufbauen und statt im Kaufrausch im Tauschrausch ihr Hab und Gut ausbreiten, wenn sie draußen auf der Terrasse und im Garten miteinander ins Gespräch kommen, in erste Handelsbeziehungen treten und am Ende vielleicht sogar in ziemlich persönliche Beziehungen, wenn Männer und Frauen mit sanften Blicken von der wundersamen Heilkraft einer noch unbekannten fernöstlichen Therapie berichten, wenn diese ganzen netten Menschen den Flohmarkt des Tauschringes bevölkern, dann wird auch dem energischsten Verfassungsschützer klar, dass diese Unterwelt nur eine freundliche, friedliche Insel im Meer des Euros ist.
" Ohne Moos geht’s los", heißt es im Informationsblatt der Kreuzberger Tauschinitiative mit dem Logo des Rettungsrings. Und was nun dabei über den Ladentisch geht, ob ein Handwerker das Bad fliest oder ein anderer Hunde ausführt, das spielt nicht einmal in der Welt des Euro eine Rolle. Hauptsache der Kreuzer rollt.

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

zurück