"Das Tiefkühlgerät mit dem Aids-Virus, Mama."
Nachdem Kyriakos Roussias drei oder vier Stunden lang stumm über Notizen, Kontrollämpchen und Mikroskopen gebrütet hatte, wandte er sich um, zupfte das schwarze Kopftuch seiner Mutter ein wenig zur Seite und deutete auf die Aufschrift BL3 am Ende einer Reihe leerer Büros im hintersten Winkel des Korridors. Das war die verbotene Zone, wo das schwarze Kühlgerät von der Größe eines zweitürigen Schranks mit der gelben Aufschrift GEFAHR-AIDS-HIV stand. Darin befanden sich Milliarden von bei minus achtzig Grad in Ampullen tiefgefrorenen und durch zwei Sicherheitsschlösser verwahrten Viren.
Die Mutter legte ihren Finger an das Ende der Stricknadel, damit keine Maschen herabfielen, und folgte wortlos seinem Blick. Zwei Minuten später kehrten beide wieder in ihre Ausgangsposition zurück, er zu seinem Computer und sie zu ihrem kirschroten Wollknäuel.
Die Hände seiner Mutter und das eingetrocknete, geronnene Blut unter ihren Fingernägeln sah Roussias zum ersten Mal, als er sieben Jahre alt war und eine Brille bekam. Fünf Dioptrien wegen Kurzsichtigkeit auf dem linken Auge, dreieinhalb auf dem rechten. Bis dahin hatte er nur halb so viel gesehen wie die anderen.
Vieles, woran sie sich von klein auf gewöhnt hatten - die Bedeutung des Kampfgekreisches etwa, das den ganzen Himmel erfüllte, nachdem der Bartgeier eine Wildkatze in die Höhe gerissen hatte - kam Kyriakos erst zu Bewußtsein, als er sieben war. Und der Junge war schwer beeindruckt, als alles gleichzeitig über ihn hereinbrach. Mit einem Mal erwies sich die Welt ringsum als mindestens viermal so weit und so hoch als bisher. Sie bestand nicht nur aus einem Weinberg, einem Gemüsegarten und den bekannten Familien der Balirides, Pateri, Sgouri und Kladi.
Später, als Erwachsener, löschte er viele Menschen und Dinge wieder aus seinem Gedächtnis, ließ nur die Hände seiner Mutter und ein paar persönliche Gegenstände als Brücke zur Vergangenheit und der anderen Heimat bestehen. Wenn es ihm schlecht ging, setzte er für gewöhnlich alles daran, in langen, zuweilen nächtelangen Telefongesprächen seinen Gesprächspartner daran zu hindern, sich zu verabschieden. Das Klicken des Hörers war ihm unerträglich. Es waren Telefongespräche mit Chatsiantoniou - sie nannten ihn Chatsiantoniou, da in ihrer kleinen, geschlossenen Clique allzu viele auf den Vornamen Jorgos hörten. Oder mit deutschen und japanischen Arbeitskollegen, selbst mit unbekannten Doktoranden, mit Patienten oder Angehörigen von Patienten aus Kreta oder aus anderen, über ganz Griechenland verstreuten Orten, die sich an ihn wandten, unabhängig davon, ob er der zuständige Ansprechpartner war oder nicht. Er zerfurchte sich mit dem goldenen Kreuz seiner Halskette fortwährend die Stirn und grub alte Geschichten aus, konstruierte Fragen, forderte Geständnisse heraus, zog erst den Dialog, dann den Monolog in die Länge, um dem Gesprächspartner noch eine Gnadenfrist abzuringen.
Am Tag vor seinem Geburtstag - am Freitag, den siebzehnten Juli 1998 - war Kyriakos Roussias´ kleines Kreuz, sein Taufgeschenk, plötzlich verschwunden. Nachdem er die Sofakissen hochgehoben und umgedreht hatte, untersuchte er alle Ecken des Sofas, fuhr mit den Fingern durch den Flokati, durchwühlte sein Rasierzeug im Badezimmer, schüttelte seine Aktentasche aus, durchsuchte die überall verstreuten schmutzigen Hemden, tastete sich durch die Essensreste der kleinen Feier vom Vortag - ein Geburtstag jenseits der Vierzig. Komm schon, mein Goldstück, lockte er es tausendmal, doch das Kreuzchen ließ sich bitten.
© Suhrkamp 2003 |
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Eigentlich hat Kyriakos Roussias, erfolgreicher Wissenschaftler in den USA, die Welt seiner Kindheit schon lange hinter sich gelassen. Doch als er nach Jahrzehnten der Abwesenheit seine Heimatinsel Kreta wieder besucht, wird er mit dem archaischen Ritual der Blutrache, der eigenen Familiengeschichte - und dem Mörder seines Vaters konfrontiert. |
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